Die Wiedergeburt der Agilität: Warum Mike Beedles Enterprise Scrum heute spannender ist denn je

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen, mich mit einer Gruppe von Coaches und Trainern auszutauschen. Ein Highlight war das Gespräch mit Andreas ( Andy) Schliep, den man in der Szene zu Recht als „Agiles Wikipedia“ bezeichnen könnte. Er zeigte mir ein Dokument, das mich sofort fesselte: die Definition von Enterprise Scrum (ES) von Mike Beedle.

Was ich sah, war kein weiteres Skalierungsframework, das die Softwareentwicklung komplizierter macht. Es war ein generisches Management-Framework, das die Essenz von Scrum auf das gesamte Unternehmen ausdehnt. Es liefert die Blaupause für die echte Business Agility, über die wir alle sprechen, die aber oft an den Wänden von Finance, HR oder Marketing scheitert. Dieses Konzept ist zu spannend, um es für mich zu behalten, und ich möchte es hier mit Euch teilen.

Der Visionär: Mike Beedle

Bevor wir in die Details eintauchen, müssen wir dem Kopf hinter der Idee kurz Tribut zollen. Mike Beedle (1962–2018) war nicht nur irgendein Agilist. Er war einer der Original-Unterzeichner des Agile Manifests aus dem Jahr 2001 – ein echter Pionier.

Beedle erkannte schon früh, dass der wahre Wert von Scrum nicht in den Rollen oder Meetings liegt, sondern im empirischen Prozess der Wertschöpfung. Er verstand, dass Scrum als Framework für die Softwareentwicklung geboren wurde, aber seine Prinzipien — Transparenz, Überprüfung, Anpassung — für jede Unternehmensfunktion universell gültig sind. Enterprise Scrum (ES) ist sein Vermächtnis, der Versuch, diese Verallgemeinerung formal zu definieren.

Enterprise Scrum (ES): Vom Sprint zum Cycle

Was ist nun der Kern von Enterprise Scrum? Es ist die konsequente Übertragung der empirischen Steuerung auf alle Ebenen und Bereiche eines Unternehmens.

1. Generizität: Der universelle Wertstrom

ES ist nicht auf IT beschränkt. Die grundlegenden Artefakte werden umbenannt, um diese Generizität zu betonen:

  • Value List (VL): Ersetzt das Product Backlog. Es enthält VLI (Value List Items), die nicht nur Code oder Features, sondern auch Kampagnen, Compliance-Prüfungen, Geschäftsstrategien oder Finanzentscheidungen sein können.
  • Cycle (Zyklus): Ersetzt den Sprint. Ein Cycle ist eine konfigurierbare, geschachtelte Time-Box (PCRI: Planning, Collaboration, Review, Improve). Ein Quartals-Cycle kann Dutzende von Wochen-Cycles beinhalten. Das erlaubt es Dir, Strategie (lang) und Ausführung (kurz) im Fluss zu halten.

2. Skalierung durch Subsumption

Der wohl revolutionärste Ansatz von ES ist die Skalierungslogik. Statt starrer, zentralisierter Planung (wie in vielen anderen Frameworks) nutzt ES das Subsumption-Prinzip:

  • Entscheidungen werden auf der niedrigsten Ebene getroffen, wo die unmittelbare Realität und das Feedback am besten bekannt sind.
  • Wenn eine Entscheidung (z. B. Budget, Priorität) auf einer höheren Ebene getroffen werden muss, subsumiert die höhere Ebene die Entscheidung, aber sie tut dies, indem sie sich auf die Ergebnisse und Messungen der darunterliegenden Teams stützt. Dies fördert Autonomie und verhindert, dass das Unternehmen von einem zentralen „Command & Control“-System gesteuert wird.

3. Die Balanced Scorecard der Agilität (N-Metrics)

ES bricht mit der alleinigen Fixierung auf die Velocity. Da der Wertbeitrag eines Compliance-Teams oder der Personalabteilung nicht in Story Points gemessen werden kann, führt ES die N-Metrics ein – eine Reihe von balancierten Metriken.

Das Ziel ist es, den Business Value durch die Balance von vier Hauptbereichen zu definieren:

  1. Profit / Finanzen
  2. Kundenzufriedenheit (CX)
  3. Mitarbeiterzufriedenheit (EX)
  4. Zweck (Purpose)

Du kannst nicht mehr nur den Umsatz steigern, während die Mitarbeiterzufriedenheit sinkt. ES zwingt Dich, den gesamten Wertbeitrag im Blick zu behalten und die Agilität gesund zu halten.

Warum Enterprise Scrum heute entscheidend ist

Mike Beedle hat ES entwickelt, um Unternehmen für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Angesichts der heutigen Realität – exponentielle technologische Entwicklung, Globalisierung und geopolitische Unsicherheit – ist ES wichtiger denn je:

1. Das Problem der „Agilen Inseln“

Viele Unternehmen haben ihre IT-Abteilung agilisiert, aber der Rest des Unternehmens arbeitet weiterhin im starren Business Waterfall. Das Ergebnis: Der agile Zug muss ständig auf das Marketing-Budget, die Compliance-Freigabe oder die Quartalsplanung warten. ES reißt diese funktionalen Silos ein, indem es alle dazu zwingt, im selben Cycle-Rhythmus zu arbeiten und empirisch zu steuern.

2. Vom Output zum Outcome (und zum Purpose)

In einer Welt, in der Unternehmen schnell auf gesellschaftliche und klimatische Veränderungen reagieren müssen, reicht es nicht, nur auf kurzfristigen Profit zu schauen. Die N-Metrics sind das notwendige Steuerungsinstrument, um nachhaltiges Wachstum zu sichern. Sie garantieren, dass die Agilität nicht zur rücksichtslosen Maximierung, sondern zur resonananten Anpassung genutzt wird.

3. Skalierung ohne Starrheit

Frameworks müssen heute die Geschwindigkeit der Entscheidung erhöhen, nicht verlangsamen. Die Subsumption-Logik und die konfigurierbaren Cycles erlauben es einem Unternehmen, sowohl die langfristige Vision (Big Cycle) zu verfolgen als auch sekündliche Entscheidungen (Small Cycle) dezentral zu treffen, ohne dass das Top-Management zum Flaschenhals wird. ES ist ein generisches Gerüst, das sich der Komplexität des jeweiligen Unternehmens anpasst, anstatt eine Einheitslösung aufzuzwingen.

Enterprise Scrum ist für mich die logische, konsequente und visionärste Weiterentwicklung der agilen Philosophie. Es ist kein Framework für Entwickler, sondern für moderne Führungskräfte, die verstehen, dass Agilität eine Haltung und ein Managementprinzip für die gesamte Organisation sein muss.

Ich bin dankbar für den Austausch, der mir dieses Juwel wieder ins Gedächtnis gerufen hat.

Anmerkung: Das Originaldokument (Enterprise Scrum Definition) sowie eine deutsche Übersetzung findest Du hier zum Download und zur Vertiefung. (Version 3.3 und Version 4.0)


Hier eine übersetzte Version.

Veröffentlicht von

Ruedi

Rudolf "Ruedi" Gysi Liebt Produkte welche Kunden begeistern und Forscher zum Thema Iterative Produktentwicklung. Versucht Work-Systems und Social-Systems nachhaltig miteinander zu verbinden damit wertvolle Arbeitswelten entstehen.