Der Drang, jede Ressource maximal auszulasten, ist tief in unserem betriebswirtschaftlichen Denken verwurzelt. Wer kennt es nicht? Wenn Dein Team oder eine Maschine nur zu 80% ausgelastet ist, fühlt sich das intuitiv nach „Verschwendung“ an. Doch in der hochkomplexen und variablen Welt der Produktentwicklung und des modernen Designs führt dieses Streben nach 100% Auslastung direkt in die Katastrophe.
Du musst Dein Denken ändern. Wie der Produktentwicklungsexperte Donald G. Reinertsen in seinem wegweisenden Buch „Managing the Design Factory“ argumentiert: Überschüssige Kapazität ist keine Verschwendung, sondern die lebenswichtige Marge, die Deinen Entwicklungsprozess vor dem Stillstand bewahrt.
Stell dir vor du bist Product Owner von einem coolen Team aber Kundenwünsche kannst du nur alle 3 Monate umsetzen und wenn so früh, dann auch nur unter sehr grosser Unsicherheit zum Liefertermin. Genau hier macht es Sinn den Blog genau zu lesen. 🙂
Die Falle der 100%-Auslastung
In einer Fabrik, in der immer wieder die gleichen Schrauben produziert werden, ist die Auslastungsrate ein valides Mass. Die Produktentwicklung, oder, wie Reinertsen es nennt, die „Design Factory“, funktioniert jedoch völlig anders.
1. Die Variabilitätsfalle: Entwicklungsarbeit ist inhärent variabel. Die Dauer einer Design- oder Codierungsaufgabe ist unvorhersehbar, weil sie auf die Generierung neuer Informationen abzielt. Versuchst Du, ein System mit hoher Variabilität – wie Deine Entwicklung – maximal auszulasten, explodieren die Warteschlangen (Queues) vor Deinen Engpass-Stationen.
2. Verdoppelte Zykluszeit: Die Warteschlangentheorie, auf die Reinertsen verweist, liefert einen harten, quantifizierbaren Beweis: Fügst Du einem Prozess, der bereits zu 90% ausgelastet ist, nur 5% mehr Arbeit hinzu, verdoppelst Du im schlimmsten Fall die Zykluszeit. Das bedeutet: Deine Projekte dauern doppelt so lange, bis sie fertig sind.
Dein Fokus auf 100% Auslastung erzeugt das, was er als „Projektüberlastung“ beschreibt. Das gesamte System gerät in einen konstanten Zustand des Stillstands. Statt schneller zu werden, weil „alle beschäftigt sind“, wird Deine gesamte Organisation langsam, unzuverlässig und verpasst alle Termine.
Flexibilität als strategische Überkapazität
Wenn Du die Kapazitätssteuerung als den wichtigsten Hebel zur Reduzierung von Warteschlangen und zur Beschleunigung der Entwicklung erkennst, entsteht eine spannende neue Perspektive: Leerlauf ist eine bewusste Investition in Deine Reaktionsfähigkeit.
Wenn Du Deine Kapazität nur zu 70% oder 80% auslastest, schaffst Du Raum für das, was Reinertsen das „echte Leben“ nennt:
- Umgang mit unvorhergesehenen Engpässen (Bottlenecks): Im komplexen Entwicklungsprozess tauchen Engpässe unerwartet auf. Mit einer strategischen Überkapazität kannst Du diese Engpässe sofort entlasten, anstatt das gesamte Programm wochenlang warten zu lassen.
- Reaktion auf Kundenwünsche: Die Flexibilität erlaubt es Dir, kurzfristige, wertvolle Änderungen von Kunden oder dem Markt sofort einzuarbeiten, ohne andere kritische Pfade komplett zu blockieren.
- Risikominderung durch schnelles Scheitern: Im Designprozess ist das Scheitern von Tests eine wertvolle Quelle für Informationen. Ein System mit Marge kann die durch ein Scheitern notwendige, zusätzliche Schleife schnell bewältigen – das „Zurück zum Zeichenbrett“ kostet keine Wochen Wartezeit.
🤝 Cross-funktionale Teams: Die neue flexible Einheit
Deine Beobachtung, dass freie Kapazitäten plötzlich den strategischen Wert cross-funktionaler Teams maximieren, ist der wichtigste Punkt.
Viele Unternehmen wollen zwar cross-funktionale Teams, aber managen sie so, als wären sie spezialisierte, starre Ressourcen: Sie werden maximal mit Arbeit „vollgestopft“, um die Effizienz zu steigern.
Der Fehler: Ein voll ausgelastetes cross-funktionales Team kann nicht mehr cross-funktional agieren, weil ihm der Spielraum für Flexibilität fehlt.
Die Lösung (nach Reinertsen): Du brauchst Mitarbeiter, die nicht nur Spezialisten (Tiefe der Fähigkeiten) sind, sondern auch generalistische Fähigkeiten (Breite der Fähigkeiten) besitzen.
| Altes Management (100% Auslastung) | Smartes Management (Kapazitätsmarge) |
| Spezialisten sind maximal ausgelastet. | Cross-Trainierte Generalisten sorgen für Flexibilität. |
| Engpass tritt auf – das Team steht still, wartet. | Engpass tritt auf – die Generalisten greifen ein. |
| Folge: Verzögerung und mangelnde Anpassung. | Folge: Der Flow wird aufrechterhalten, Zykluszeit bleibt kurz. |
Indem Du bewusst Kapazität freihältst, wird das cross-funktionale Team zur flexiblen Einheit, die Du wirklich brauchst. Statt in der Landschaft herumzustehen, kann dieses Team:
- Engpässe ausgleichen: Ein cross-trainierter Ingenieur kann sofort einspringen, wenn der einzige Tester krank wird (wie in Reinertsens Beispiel), anstatt vier Wochen Wartezeit zu riskieren.
- Lernkurven beschleunigen: Sie können ihre freie Zeit nutzen, um sich weiterzubilden, Wissen zu dokumentieren oder andere Teammitglieder zu schulen (ein weiterer Produktivitätshebel aus dem Buch).
- Prozesse optimieren: Sie arbeiten proaktiv an der Verbesserung des Wertstroms, anstatt nur reaktiv Aufgaben abzuarbeiten.
Fazit: Wenn Du Deine cross-funktionalen Teams nicht maximal auslastest, machst Du sie nicht ineffizient. Du machst sie agil, schnell und widerstandsfähig gegen die unvermeidliche Variabilität und die Überraschungen, die das Leben (und der Markt) für Deine Entwicklung bereithalten.
Dein wahrer Fokus liegt nicht auf der Effizienz der Einzelressource, sondern auf der Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit des gesamten Prozesses. Gib Deinen Teams den Raum, den sie brauchen, um grossartig zu sein!