In vielen Organisationen liegt ein Schatten über der vielbeschworenen agilen Transformation. Methoden wurden eingeführt, Rollen neu definiert, Teams in Selbstorganisation geschickt. Doch trotz all der Anstrengungen zeigt sich vielerorts ein ernüchterndes Bild: Die Wirkung bleibt aus. Führungskräfte berichten von zunehmender Fragmentierung, von fehlender Richtung und von wachsender Frustration – sowohl in der Führungsriege als auch bei den Teams.

Was bleibt, ist ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Nicht selten wird in Gesprächen mit Führungspersonen eine Mischung aus Erschöpfung und Zweifel spürbar. Man hat alles versucht, was das aktuelle Repertoire an Transformationsinstrumenten hergibt – und doch scheint die Organisation nicht wirklich in Bewegung zu kommen. Der Unterschied zwischen „agil tun“ und „wirklich wirksam sein“ wird plötzlich schmerzhaft spürbar.
Ein zentrales Missverständnis liegt dabei in der Vorstellung, dass sich Führung und Verantwortung in einem selbstorganisierten System gewissermassen auflösen – in Rollen, in Praktiken, in kollektiven Entscheidungen. Was dabei übersehen wird: Je dezentraler Verantwortung verteilt wird, desto grösser ist der Bedarf an strategischer Zielklarheit. Es reicht nicht, Entscheidungsspielräume zu öffnen, wenn nicht gleichzeitig deutlich ist, in welche Richtung entschieden werden soll. Ohne ein gemeinsames Verständnis von Sinn und Zweck entsteht kein echter Handlungsspielraum – sondern nur Leere.
Die Kunst liegt nicht in der radikalen Selbstorganisation, sondern in der verantwortungsvollen Dezentralisierung. Das bedeutet: operative Verantwortung wird dort wahrgenommen, wo sie wirksam ist – im Team, nah am Kunden, in der Produktentwicklung. Aber die Richtung, das „Wozu“, muss von der Organisation selbst gesetzt und kommuniziert werden. Nicht als Vorgabe, sondern als Orientierung. Führung heisst in diesem Verständnis nicht Kontrolle, sondern das Schaffen eines Rahmens, in dem sich Verantwortung entfalten kann.
Diese strategische Zielklarheit ist kein einmaliges Dokument oder eine schicke Folie. Sie ist ein kollektiver Verständigungsprozess, der kontinuierlich geführt werden muss. Sie ist nicht nur kognitiv, sondern kulturell verankert – und emotional wirksam. Denn in Zeiten von Unsicherheit, hoher Komplexität und technologischem Wandel suchen Menschen nicht nach Regeln, sondern nach Orientierung. Nach einem Gefühl von Sinn und Verbundenheit.
Mit dem Einzug von Künstlicher Intelligenz in immer mehr Bereiche der Wertschöpfung verändert sich diese Lage noch einmal grundlegend. KI kann Prozesse automatisieren, Entscheidungen vorbereiten, Kommunikation skalieren – aber sie kann keine kulturelle Kohärenz herstellen. Im Gegenteil: je schneller Entscheidungen getroffen und Informationen verarbeitet werden, desto gravierender wirken sich strategische Missverständnisse aus. Wenn die Richtung nicht klar ist, beschleunigt KI nicht die Lösung, sondern das Problem.
In dieser neuen Realität ist Alignment nicht mehr ein „nice to have“, sondern ein Überlebensfaktor. Teams, die mit KI-gestützten Werkzeugen arbeiten, brauchen ein tiefes, gemeinsames Verständnis davon, wozu sie arbeiten. Sie müssen in der Lage sein, ihre Entscheidungen nicht nur auf der Basis von Daten zu treffen, sondern im Lichte einer geteilten Mission. Das erfordert eine neue Qualität von Kommunikation, Führung und organisationaler Selbstverständigung.
Ein möglicher Ansatz, um diesen Prozess bewusst zu gestalten, ist der Gedanke der „Iteration Zero“. Anders als der Name suggeriert, geht es dabei nicht um ein technisches oder methodisches Vorgehen, sondern um eine Haltung: Iteration Zero ist die Einladung, vor dem Handeln innezuhalten. Sie ist ein Raum für Klärung, Verständigung und kollektive Ausrichtung. Hier werden nicht Aufgaben verteilt, sondern Fragen gestellt: Was ist unser Auftrag? Was ist unser Beitrag? Was bedeutet Wirkung in unserem Kontext?
Dieser Moment vor dem Start ist in vielen Organisationen verloren gegangen. Zu gross ist der Druck, sofort in die Umsetzung zu gehen. Zu tief sitzt die Vorstellung, dass Geschwindigkeit wichtiger sei als Sinn. Doch die Erfahrung zeigt: Wer sich diesen Raum nicht nimmt, zahlt später den Preis – in Form von Reibungsverlusten, Widersprüchen und stiller Resignation.
Führungskräfte, die diesen Raum schaffen, übernehmen damit eine neue Verantwortung: Nicht mehr für jede Entscheidung im Detail, sondern für die Qualität der Orientierung, die sie geben. Sie werden zu Architektinnen der Rahmung, zu Gestalterinnen der Zielklarheit. Das verlangt Mut – nicht nur intellektuell, sondern auch emotional. Denn es bedeutet, Kontrolle loszulassen und Vertrauen zu investieren. Es bedeutet, sich sichtbar zu machen – mit Haltung, mit Sprache, mit Präsenz.
Was Organisationen heute brauchen, ist kein weiteres Framework, sondern ein neues Verständnis von Führung und Zusammenarbeit. Eines, das strategische Klarheit mit dezentraler Verantwortung verbindet. Eines, das die Möglichkeiten der KI erkennt, ohne die Notwendigkeit menschlicher Verständigung zu unterschätzen. Eines, das die Energie der Teams nicht in Strukturen bindet, sondern auf ein gemeinsames Ziel hin bündelt.
In der Praxis kann dies nur gelingen, wenn Organisationen bereit sind, echte Gespräche zu führen – über Ziele, Werte und Wirksamkeit. Wenn sie bereit sind, Verantwortung nicht nur zu delegieren, sondern zu teilen. Und wenn sie den Mut haben, Transformation nicht als technische, sondern als kulturelle Aufgabe zu begreifen.
Führung wird in diesem Bild zu einem kollektiven Prozess: Klarheit wird gemeinsam geschaffen, Verantwortung wird getragen, Wirkung wird möglich. Nicht als Ideal, sondern als konkrete Praxis. Iteration 0 ist der Anfang davon. Nicht als Methode, sondern als Haltung. Nicht als Tool, sondern als Einladung zur Neuausrichtung.
Die Frage ist nicht, wie wir noch mehr „agil“ machen. Die Frage ist: Wie schaffen wir Räume, in denen echte Verantwortung wieder entstehen kann – getragen von klarer Ausrichtung, echter Verbundenheit und dem Vertrauen, dass Menschen wirksam sein wollen, wenn man sie lässt.
