Im Wald des Wandels: Warum Agile Coaches oft den Blick für das Ganze verlieren

Es gibt diesen Moment, wenn man als Agile Coach in ein Unternehmen kommt – voller Energie, mit einer klaren Absicht und einer Vision davon, was man tun moechte. Man hat die Methoden im Gepaeck, die Frameworks im Kopf und die Mission vor Augen. Und genau hier beginnt die Herausforderung.

Stell dir vor, du gehst in den Wald. Du hast ein Buch dabei. Deine Absicht ist klar: Du willst lesen, konzentriert, ungestört, fokussiert. Kein Telefon, kein Lärm, keine Ablenkung. Nur du und dein Buch. Auf dem Weg dorthin nimmst du noch alles wahr. Die Vögel, die Sonnenstrahlen, das Rauschen der Blätter, das Knirschen des Untergrunds unter deinen Schuhen. All das gehört zu deiner Umgebung. Es ist ein Teil des Waldes, in dem du dich bewegst.

Dann setzt du dich auf eine Bank, schlägst dein Buch auf – und die Welt um dich herum verschwindet. Dein Blick ist fixiert auf die Seiten, deine Gedanken tauchen tief ein, deine Augen sehen nur noch den Text. Du nimmst nichts mehr wahr ausser dem, was in deinem Fokus liegt. Und genau das passiert auch, wenn man als Agile Coach in eine Organisation kommt.

Wenn wir als Coaches oder Berater irgendwo hinkommen, haben wir oft schon ein „Buch“ dabei. Unsere Werkzeuge, Methoden, Hypothesen, vielleicht sogar eine vorgefasste Idee davon, was das Unternehmen braucht. Wir setzen uns metaphorisch auf unsere „Bank“ und beginnen zu arbeiten – mit vollem Fokus. Doch während wir uns auf ein Framework, eine Skalierungsstrategie oder ein Teamproblem konzentrieren, passiert um uns herum noch so viel mehr. Die Kultur, die Zwischentoene in Meetings, die Koerpersprache der Fuehrungskraefte, das unausgesprochene „Warum machen wir das eigentlich?“ – all das rauscht wie der Wind in den Blaettern an uns vorbei. Und das Problem? Wir merken es nicht einmal.

Das wir es nicht wahrnehmen heisst nicht das es nicht da ist!

Organisationen sind lebende Systeme. Sie bestehen nicht nur aus Workflows, Tools und Prozessen, sondern aus Menschen, Dynamiken und ungeschriebenen Regeln. Wenn wir nur auf unser „Buch“ – unser Framework oder unseren Auftrag – schauen, übersehen wir das Entscheidende: das eigentliche System, in dem Veränderung stattfindet. Wir sehen nicht, wer gerade zurückhaltend ist, weil er schon fuenf andere Transformationen erlebt hat und sie alle gescheitert sind. Wir hören nicht, dass sich hinter einem technischen Problem oft ein kulturelles Spannungsfeld verbirgt. Wir bemerken nicht, dass eine Methode vielleicht formal perfekt eingeführt wurde – aber niemand sie lebt.

Was können wir also tun? Schlag das Buch mal zu! Nimm dir bewusst Momente, in denen du nicht an Lösungen arbeitest, sondern einfach beobachtest. Höre zu. Sieh hin. Fühle das System, bevor du es verändern willst. Frage nach dem Unausgesprochenen. Warum machen wir das? Welche Ängste, Hoffnungen oder Zweifel gibt es? Wer ist wirklich bereit fuer Veränderung? Erkenne den Kontext. Eine Methode ist nur so gut wie das System, in dem sie eingebettet ist.

Wenn die Kultur nicht bereit ist, wird keine Methode das retten.

Ein Agile Coach zu sein, heisst nicht nur, ein gutes Buch zu haben und es konzentriert zu lesen. Es heisst, den Wald wahrzunehmen, bevor man sich setzt und eintaucht. Denn Veränderung passiert nicht im Buch – sie passiert zwischen den Seiten, in den Zwischentönen, in dem, was wir hören, sehen und fühlen, wenn wir wirklich offen sind. Also: Schlag dein Buch mal zu. Höre dem Wald zu. Denn da passiert die eigentliche Magie.

Veröffentlicht von

Ruedi

Rudolf "Ruedi" Gysi Liebt Produkte welche Kunden begeistern und Forscher zum Thema Iterative Produktentwicklung. Versucht Work-Systems und Social-Systems nachhaltig miteinander zu verbinden damit wertvolle Arbeitswelten entstehen.

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