Seit März hat sich die Welt auf völlig unerwartete Weise entwickelt. Dinge, die unvorstellbar waren, wurden von uns gefordert. Die Gesellschaft, Organisationen und jeder Einzelne wurden auf neue Art und Weise herausgefordert, ungewohnte Wege zu gehen. In den Organisationen waren viele im Homeoffice gebunden – mit allen Vor- und Nachteilen, die es mit sich gebracht hat. Gerade Führungskräfte mussten sich in dieser Zeit neu erfinden: Den Kontakt zu Mitarbeitenden anders halten und wahrscheinlich auch mehr ins Vertrauen gehen sowie Kontrolle abgeben. Dadurch wurde mehr Selbstorganisation von den Einzelnen gefördert.
Neben Entbehrungen hat die Situation auch Experimente begünstigt bzw. erfordert. Neue Pfade konnten gegangen werden und Fehler durften gemacht werden. Improvisieren war erwünscht. Meetingstrukturen und Arbeitsabläufe wurden neu aufgesetzt und gestaltet. Somit wurde eine Art agiles, iteratives Vorgehen nicht nur ein Ideal, sondern die einzige Möglichkeit den Alltag in all der Ungewissheit zu überstehen. Was wird jetzt daraus?
Wo bleibt nun das kreative Innovationspotential, dass in der Krise ermöglicht hat, vorher Undenkbares doch zu leisten?
Nun befinden wir uns in einer Phase von Lockerungen der Corona-Restriktionen. Es ist der Moment der Entscheidung: Springen wir nun einfach wieder zurück zum früher Gewohnten, zur Vor-Corona-Normalität, oder was kann man aus dieser erzwungenen Experimentierphase mitnehmen und nachhaltig weiterentwickeln? Eine Frage könnte sein: Welche Musterwechsel können wir übernehmen, um die Robustheit (Resilienz) der Organisation weiter zu stärken? Zugleich fangen in den Organisationen die „Verwalter“ bereits an, ihre alten weitestgehend schwerfälligen Steuerungsmechanismen wieder hochzufahren. Man könnte frech sagen: Die Verwalter verwalten die Krise mit immer mehr Regularien und beenden so die Experimentierphase jäh. Und plötzlich fühlt man sich wieder in der alten Mühle. Wo bleibt das kreative Innovationspotential und die Nutzung der entwickelten Selbstorganisationsfähigkeit der Mitarbeitenden?
Reflexionsfragen und Meta-Lernen
Schon in normalen Zeiten findet auch in agilen Organisationen/Teams häufig nur Verbesserungslernen (single-loop-learning nach Argyris/Schön) statt (Was lief gut? Was weniger? Wie kann man es besser/schneller/günstiger machen? Welchen anderen Ablauf/Prozess könnte man probieren?). Die Ziele an sich, Haltungen, Grundannahmen und Werte werden selten hinterfragt. Ist ja auch schwierig, denn da kommen gegebenenfalls Gefühle und Unsicherheiten mit ins Spiel, die man ja gern vermeiden will. Aber ein wirkliches Lernen kann nur durch Reflexionsfragen auf Ebene des Erneuerungslernen (double-loop-learning) oder des Lernens über das eigene Lernen (deutero-learning) passieren. Da würden Fragen diskutiert, wie: Machen wir das Richtige? Welchen Sinn sehen wir darin? Wie geht es mir mit der Arbeit, dem Team, dem Ziel? Welche Werte/Einstellungen haben dazu geführt, dass wir immer wieder in das selbe Fahrwasser kommen? Welche Tabus gibt es bei unserer Reflexion bzw. was fällt immer hinten runter in unserem Reflexionsvorgehen?
Unsere Intuition und Vertrauen werden entscheidender
Aktuell gibt es sehr vielschichtige Fragen, die vor allem auch deshalb so schwierig zu beantworten sind, weil die Zukunft und die weitere Entwicklung weiterhin nicht so leicht zu prognostizieren ist. Fach- und Führungsverantwortliche sind noch stärker gefordert, einen gesunden Umgang mit Unsicherheit zu finden und auch andere auf diesem Weg zu leiten oder begleiten. Und vielleicht geht es weniger um die Konzepte und die Methoden, mit denen wir arbeiten, sondern vielmehr darum, dem «Sozialen Miteinander» Beachtung zu schenken. Dafür braucht es Begegnung und Reflexionsräume – denn die Ungewissheit erschwert rationale Entscheidungsfindung.
Hierbei einige unserer Hypothesen, was hilfreich für den Umgang mit Unsicherheit ist:
- Verbindung: Gemeinsam ist man weniger allein. Denn obwohl Führung und Verantwortung sich mitunter einsam anfühlen kann, kann der Austausch mit Gleichgesinnten helfen sich in seinen Gedanken zu sortieren.
- Inspiration: Ungewöhnliche Zeiten brauchen neuartige Denkansätze und Mut zum Experimentieren. Kreativität, Anregungen und inspirierende Ideen können aus dem Abgleich verschiedener Felder entstehen und durch Menschen mit anderen Herangehensweisen.
- Gute Erdung: Gute Entscheidungen unter Unsicherheit basieren auf einem guten Kontakt zu sich selbst (z.B. eigene Unsicherheiten wahrnehmen und aktiv damit umgehen und nicht nur agieren.
Aus diesen vielen Diskussionen sind folgende Ideen entstanden: Jetzt – gerade in der Zeit – wo alles wieder rasend schnell wird – tut Reflexion Not. Jeder für sich, aber auch in Teams und in den Führungsgremien. Es gibt so viel zu heben und zu hinterfragen. Zur alten Ordnung kann man immer noch leicht zurückgehen. Das ist sicherer Boden.
Erfolgreiche organisationsinterne Reflexion wendet situativ angepasste Methoden an
Es gäbe sicherlich viel dazu zu sagen, wie man organisationsintern Reflexion angehen könnte. Aber es hängt immer von der konkreten Situation ab. Verallgemeinert kann man sagen: Das Wichtigste ist: Bitte nicht auf Standardvorgehensweisen zurückgreifen, sondern wirklich etwas Passendes für die Organisation ansetzen. Und dann mit offenen Ohren und ehrlichem Interesse zuhören, was die Mitarbeitenden und Kolleg/innen zu sagen haben. Erst wirkliches Verstehen und Annehmen der Situation ermöglicht Transformation.
Und weil wir es schonmal für einen anderen Kontext aufbereitet haben – Hier ein Link als Blick über den Tellerrand zu einem Blogbeitrag an dem ich intensiv mitgewirkt habe. Das Thema ist Reflexion des Lockdowns an den Schulen – mit vielen Reflexionsfragen und möglichen Vorgehen in der Kombination von Einzel-, Gruppen- und Grossgruppenreflexion (online und analog), die auch für Unternehmen in abgewandelter Form anwendbar sind. Link:
Als Schule aus der Corona-Zeit lernen: Anregungen
Interdisziplinäre Reflexion für Verantwortungsträger/innen: www.art-of-reflecion.org
In der eigenen «Suppe» kommt man immerzu auf dieselben Antworten und findet viel Bestätigung von Gleichgesinnten. Es lohnt sich ein interdisziplinärer Austausch. Sich selbst immer wieder neuen Fragen zu stellen und zu schauen, wie es andere Organisationen und Führungspersonen machen.
Wer den Austausch über den Tellerrand sucht und in der Nähe von Basel lebt oder arbeitet, kann folgendes kurzfristiges Angebot nutzen: Sich Anmelden beim 2 ½ – stündigen lebendig gestalteten Reflexions-Parcours (Link zu www.art-of-reflection.org ) für Verantwortungsträger*innen.
Die nächsten Termine sind am 12. Juni und am 17. Juni. Das Angebot ist sich in einem ungewöhnlichen Rahmen (Skulpturhalle, Basel) der Frage zu widmen: «Was kann man als Führungsperson aus der erzwungenen Experimentierphase der vergangenen Wochen in seine Organisation mitnehmen und nachhaltig weiterentwickeln?»
Ziel ist sich gegenseitig zu inspirieren, voneinander zu lernen und an hoffnungsvollen Ansätzen dran zu bleiben. Möglichst viele kleine und grosse Innovationen für unsere Arbeitswelt und Gesellschaft von Morgen heben und nicht einfach nur zur alten Tagesordnung übergehen.
Das Projekt ist mit folgenden Personen entstanden:
- Thomas Berger, Wirtschaftsingenieur, KlarSinn GmbH, ehem. Leitung Zentrale Informatik Basel-Stadt. Er hat zusammen mit seinem Team die Quadratur des Kreises realisiert hat – nämlich agiles Arbeiten in der Verwaltung etabliert.
- Leonie Burri, Arbeitspsychologin, Expertin für Schulentwicklung am Pädagogischen Zentrum in Basel-Stadt. Sie hat Anfang April in einem kleinen Team innerhalb kurzer Zeit Online-Kurse zu Fernunterricht aus dem Boden gestampft, bei denen knapp 1000 Lehrpersonen teilgenommen haben und sich digital weiterbilden konnten.
- Andrea Kleinhuber, Anthropologin, Führungsentwicklerin am Universitätsspital Basel. Sie ist bekannt für ihre kreative, unkonventionelle Arbeit in der sie immer wieder Dialog und Verständigung im Spital und spitalübergreifend ermöglicht.
Abschlussbemerkungen
Dieser Blogbeitrag sollte im Anschluss an den Beitrag von Rudi zum Thema «Agile Initiative: Haben wir in das Soziale System investiert?» verdeutlichen, wie man konkret in das Soziale System der eigenen Organisation oder in die soziale Kompetenz der eigenen Person investieren kann. Denn gerade in Zeiten von Ungewissheit, lohnt es sich in die Reflexionsfähigkeit als überdauernden Wert zu investieren. Nur was man im Austausch mit Anderen zu greifen bekommt, ist veränderbar und damit auch steuerbarer.
Zum Ende hin soll das Veränderungsparadoxon der Gestaltsystemtheorie Mut machen. Es besagt:
«Die Veränderung geschieht, wenn man wahrnimmt und annimmt, was aktuell ist.»