Was hat Gruppendynamik mit Kanban zutun?

Meine ersten gruppendynamischen Kinderschuhe habe ich unterdessen eingetauscht. Ein Paar etwas grössere Schühchen darf ich tragen.

Ich kann mich noch gut an mein erstes gruppendynamisches Training erinnern. In einer herrlichen Landschaft mitten in der schweizer Bergwelt durfte ich mich ganz mit mir auseinandersetzen. Als ich nach fünf Tagen den malerischen Ort wieder verlassen habe, war mein Gepäck um einiges reicher. «In Beziehung gehen», «das Hier und Jetzt», «die Metha-Ebene» und ein kleines Muster Duschgel haben ich nebst vielen Erfahrungen zusätzlich in meinen Koffer gepackt.

Das mag vielleicht sehr romantisch und tiefenentspannt klingen, doch der Schein trügt. Sich fünf Tage mit sich selber, einer Gruppe und dem „Hier und Jetzt“ auseinander zu setzen ist harte Arbeit. Personen lösen etwas bei einem selbst aus und man löst auch etwas bei anderen aus. Das kann im Positiven wie auch im Negativen der Fall sein. Eine Reise zu sich selbst und mit sich selbst, welche sich wirklich lohnt.

Es ist nicht so leicht, wie es aussieht.

Zuhause angekommen habe ich meinen Koffer ausgepackt und alles sorgsam in meinen Alltagsrucksack verstaut. Zugegeben, das wohlriechende Duschgel hat es nicht dahin geschafft.

Dieses erste Training hat mich verändert, meinen Blick geschärft und gleichzeitig geöffnet. Im kommenden Jahr habe ich mich immer wieder dabei ertappt auf die «Metha-Ebene» auszuweichen. Mir wurde bewusst, dass ich das schon immer irgendwie getan habe und es nicht bemerkte. Was zu Beginn ein wahlloser Wechsel zwischen „Metha-Ebene“ und „in Beziehung gehen“ war, habe ich mit der Zeit bedachter gewählt. Das tönt jetzt ebenfalls einfach, doch das ist hier auch nicht der Fall. Sich im «Hier und Jetzt» zu befinden, sich wahrzunehmen, an zu nehmen und dann bewusst den nächsten Schritt zu tun ist definitiv schwieriger als Radfahren. Radfahren lernt man und kann es irgendwann. Gruppendynamik ist ein lebenslanges Lernen.

Mit meinem neuen gruppendynamischen Blick habe ich mich selber wieder auf die Welt losgelassen. Es ist wirklich leicht zu erraten, was darauf geschehen ist. Mein neuer Blick auf Gruppen konnte ich nicht mehr ausschalten. Die gruppendynamischen Themen sprangen mir förmlich entgegen. Nachdem mein privates und berufliches Umfeld eine schonungslose Überdosis an gruppendynamischer Analyse über sich ergehen liess, habe ich gelernt mit meiner neuen Brille besser umzugehen.

Kanban: mehr Gruppendynamik drin als drauf steht

Nebst der Gruppendynamik habe ich mich ebenfalls mit Kanban auseinander gesetzt. Kanban schien aus der Ferne betrachtet ausschliesslich analytisch und klar strukturiert zu sein. Schon bald stellte ich fest, dass da mehr Gruppendynamik drin steckt als drauf steht. Es reicht beispielsweise nicht «Swimlanes», «WIP», «Definition of Done» fest zu legen. Die Menschen in der Wissensarbeit müssen miteinander ins Gespräch kommen, sich über Arbeit austauschen, am Board arbeitsfähig werden und miteinander in Beziehung gehen. Es geht ja nicht darum den Menschen zu organisieren, es geht um die Strukturierung von Arbeit.

Parellelen zwischen Gruppendynamik und Kanban

Will man die „Kraft der Methode“ Kanban nutzen, dann bedingt das ein Commitment, ein sich auf die Methode einlassen. In der Gruppendynamik nutzt man die „Kraft der Gruppe“. Auch hier ist das Commitment sich auf die Gruppe einzulassen und sich zu engagieren unerlässlich.

Das in Kanban verwendete Pull- oder Hol-Prinzip kommt in der Gruppendynamik ebenfalls zum Zug. Es wird sichtbar, indem man sich zeigt, ein persönliches Wagnis in der Gruppe eingeht und das Angebot der Beziehung macht.

Die 4 Kanban-Prinzipien in der Gruppendynamik

Prinzip 1: Beginne mit dem, was du tust

Vor der Gestaltung eines ersten Kanban-boards richtet man den Blickwinkel auf das, was man gerade tut. Es braucht keine umfassenden Veränderungen oder Konfigurationen. Ich schildere in meinem Blog-Beitrag „Don’t fall in love with your first Kanban-board!“ den Start mit einem Kanban-board in der Wissensarbeit. Es wird deutlich, wie unkompliziert dieses Startmoment sein kann.

In der Gruppendynamik richtet sich der Blick auf das „Hier und Jetzt“ und das was jede Person in diesem Moment mitbringt. Hier ist nicht das Duschgel gemeint, welches mich begleitet hat, sondern viel mehr die Aspekte, welche einem selber beschäftigen. Diese Aspekte können mit mir selber zu tun haben, mit der Gruppe, meinem Umfeld oder dem zu bearbeitenden Thema.

Prinzip 2: Inkrementelle, evolutionäre Veränderungen verfolgen

Die Kanban-Methode beabsichtigt mit einem minimalen Widerstand kontinuierliche, inkrementelle und evolutionäre Veränderungen zu erzielen. Fortschritt soll möglich sein. Ein umfassender Change wird vermieden, denn dieser könnte Angst oder Unsicherheit mit sich bringen. Widerstand könnte die Folge sein.

In der Gruppendynamik sind Angst und Unsicherheit schlechte Berater von Gruppen, welche arbeitsfähig werden wollen. Durch das Erkennen von Beziehungsmustern und Dynamiken entsteht Klarheit. Das Zulassen von Ambivalenz ermöglicht Klärung und Veränderung.

Prinzip 3: Aktuelle Prozesse, Rollen & Verantwortlichkeiten berücksichtigen

Kanban berücksichtigt vorhandene Prozesse, Rollen, Verantwortlichkeiten und Titel. Eine Beibehaltung ist möglich. Veränderung wird weder vorgeschrieben noch verboten.

Das Teamdynamik-Modell nach Bruce Tuckman (1965) besagt, dass jede Gruppe von der Entstehung bis zur Auflösung bestimmte Phasen durchläuft. Die Phasen Formung, Storming, Norming und Performing stehen für die gruppeninternen Prozesse. Diese Phasen sind ein Zyklus, welche die Gruppe immer wieder durchläuft. Von diesen Phasen sind u.A. Rollen, Verantwortlichkeiten und Prozesse betroffen. Die Gruppendynamik bietet hier die Chance handlungsfähig zu bleiben, auch wenn scheinbar nichts mehr geht. Das Bewusstsein dieser Prozesse kann bei der Arbeit mit Kanban unterstützend wirken.

Der Psychoanalyst Raoul Schindler hat 1957 das rangdynamische Positionsmodell entwickelt. Es werden die verschiedenen Positionen, welche Mitglieder innerhalb einer Gruppe einnehmen können und wie diese miteinander in Verbindung stehen, betrachtet. Diese Betrachtung schafft Klarheit. Eine Klarheit, welche die gemeinsame Arbeit mit einem Kanban-board positiv beflügeln kann.

Prinzip 4: Zu Führungsverantwortung auf allen Ebenen ermutigen

Alle Personen müssen in diesem Kanban-Prinzip die kontinuierliche Verbesserung für sich annehmen und umsetzen. Dies ermöglicht die Etablierung einer optimale Performance.

Eine offensichtliche Parallele zwischen Kanban und Gruppendynamik ist vielleicht nicht auf den ersten Blick zu sehen. Doch bei genauer Betrachtung sind aus meiner Sicht persönliche Wagnisse eine Form der Führung, wenn sie in Zusammenhang mit Selbstbeobachtung und dem Einholen von Feedback gekoppelt sind. Das führt zum Erfolg.

Change des Bewusstseins der Gruppendynamik für Kanban

Gruppendynamik und Kanban bieten die Chance arbeitsfähig zu sein. Kanban ohne Gruppendynamik ist für mich heute undenkbar. Beides ist nicht in Stein gemeisselt. Es verändert sich und passt sich den Gegebenheiten an. Ist eine Gruppe arbeitsfähig, kann dies im Falle eines Bottleneck helfen, gemeinsam die Situation zu meistern.

Don’t fall in love with your first Kanban-board!

In meiner Kanban-Schulung habe ich gelernt „Don’t fall in love with your first Kanban-board!“. Mit einem Schmunzeln habe ich selber diesen Satz verwendet, als mein erster Prototyp eines Schulleitung-Kanban-boards entstanden ist. Selbstverständlich wusste ich, dass mein erstes Board noch viel Entwicklungspotential hat und dass es viel Luft nach oben gibt. Es fiel mir nicht schwer dieses wieder zu verwerfen und es zu verbessern.

Mein erstes Board ist geboren!

Endlich ist es da, mein Board! Voller Stolz habe ich mich im Büro mit einer Rolle Packpapier und einer Skizze meines Boards auf den Boden gesetzt und mit Zeichnen begonnen. Ein Bild an meiner Bürowand musste weichen und bei der ersten Betrachtung kam in mir ein Gefühl von Stolz auf – MEIN BOARD… Ich muss gestehen, ich bin doch etwas verliebt in mein eigenes Board. Es scheint perfekt zu sein. Der erste Schritt ist getan.

Fragen über Fragen

„Vorgehen? Ticketgestaltung ? Wie fülle ich mein Board mit den Tickets? Habe ich an jede wichtige Swimlane gedacht? „WIP-Limits“ müssen her und nicht zu vergessen die „Definition of Done“… So viele Fragen kreisen in meinem Kopf, aber jetzt erstmal der Reihe nach….

Tickets mit einem Planungshorizont

Ich habe mich dafür entschieden meine Tickets in kurzfristige, mittelfristige und langfristige Tickets zu gestalten. Dies signalisiere ich mit einem farbigen Punkt, welchen ich problemlos überkleben kann. Ein Ticket kann somit jederzeit die Farbe wechseln. Tasks, Start und Ende dürfen natürlich nicht fehlen.

Fertig!? Da fehlt einiges…

Die „Definition of Done“ weist aus, welches Ereignis meine Aktivitäten liefern müssen, damit ein Ticket auf „Fertig“ gegeben werden kann, fehlt. In meinem Kopf habe ich diese bereits zusammengestellt, doch die Visualisierung ist ausstehend.

Jetzt sitze ich vor meinem Board auf dem Boden und überlege mir die WIP-Limits. Die Farben der Tickets müssen hier Berücksichtigung finden. Doch wie viele Tickets jeder Farbe dürfen im System sein? Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht sagen. Ich werde dies auf dem gemeinsamen Weg in eine neue Zukunft mit meinem Kanban-board definieren.

Der Morgen danach

Eine Nacht geschlafen stehe ich am nächsten Morgen wieder vor meinem Board. Und ja, ich bin noch immer begeistert und leicht verliebt…

Ganz nach den Prinzipien von Kanban starte ich mit dem, was ich jetzt mache. Ein Ticket nach dem anderen entsteht. Das Platzieren der Tickets gelingt mir mit Leichtigkeit, wie auch die Informationen darauf zu erfassen. Ich stehe vor dem Board und meine Augen weiten sich zunehmend… kann es tatsächlich sein, dass ich ein Ticket in der Hand halte, welches in keine Swimlane passt?? Das kann nicht sein. Mein Board ist doch perfekt… irgendwo muss dieses Ticket seinen Platz finden… ungeachtet wie lange und intensiv ich mein Board anstarre, die Problematik löst sich nicht. Eine weitere Swimlane muss her. Ich ertappe mich beim Gedanken diese zu einem späteren Zeitpunkt irgendwann einzufügen und muss meinen inneren Schweinehund überwinden um mir Gedanken zu machen, wo genau ich dieses Ticket im Board unterbringe.

Falling in love

Genau jetzt wird mir bewusst, ich habe mich tatsächlich in mein Board verliebt und das Anpassen fällt mir schwer. Change heisst Veränderung wahrzunehmen, anzunehmen und zu begegnen. Das hat zur Folge, dass ich dem zweiten Kanban-Prinzip in die Augen schauen muss – Verfolge evolutionäre Verbesserungen. Natürlich bin ich mir bewusst, dass das Ergänzen einer Swimlane nichts mit evolutionären Verbesserungen zu tun hat, sondern viel mehr eine kleine Anpassung bedeutet. Ich muss mich der Tatsache stellen, dass diese erste grosse Liebe nicht in Stein gemeisselt ist, nicht unumstösslich ist und ebenfalls Veränderung erlebt.